Zurück zur Startseite ISS
Zurück zur Startseite Zurück zur ISS-Indexseite
Artikel 19. Juni 2008
Ungeahnte Fähigkeiten
Europäisches ATV "Jules Verne" tankt ISS auf und zeigt Einsatzmöglichkeiten, für die es gar nicht konzipiert war

Die ISS im Juni 2008
Oben: Ein Blick auf die ISS nach dem Ablegen der Raumfähre DISCOVERY am 11. Juni 2008. Unten ist das ATV JULES VERNE zu erkennen, das am russischen Servicemodul SWESDA angekoppelt ist. (Photo: NASA/JSC)
Nach elf Wochen im integrierten Dienst für die Internationale Raumstation hat das europäische Automatisierte Transferfahrzeug (ATV) JULES VERNE alle für diesen Flug gesteckten Ziele erreicht, vom automatischen Andocken am 3. April 2008 bis zum Wiederauffüllen der Treibstofftanks des SWESDA-Servicemoduls und der Anhebung der Bahn der ISS. Dazu zeigte das Frachtraumfahrzeug weitere ungeahnte Einsatzmöglichkeiten für die es eigentlich gar nicht konzipiert war.

Am gestrigen Mittwoch wurden die gesamten 856 kg an Treibstoff (280 kg Unsymmetrisches Dimethylhydrazin (UDMH) und 530 kg an Stickstofftetroxid (N2O4)) aus den Tanks des ATV in einem Zug in die Tanks des Servicemoduls herübergepumpt. Diese sogenannten "hypergolen" (kontaktendzündlichen) Treibstoffe werden von den Triebwerken der russischen Module benötigt, um die Steuermomentenkreisel (CMGs) der Station, die die Lageregelung der ISS durchführen, zu entladen und, wenn nötig, die Bahn des 300-Tonnen-Komplexes anzuheben.

Letzteres ist aber auch eine Aufgabe des ATVs, das speziell dafür ausgelegt wurde. Am heutigen Donnerstag führte JULES VERNE das zweite von insgesamt vier Bahnanhebungsmanövern unter Verwendung seiner vier Schubdüsen an seinem hinteren Ende durch.

Nach der erfolgreichen Transferierung des Treibstoffs wurden die Leitungen durchgespült, damit beim Ablegen des ATV im September kein Hydrazin-Treibstoff aus ihnen freigesetzt wird und die Oberfläche der Station kontaminieren kann. Die Transferleitungen verlaufen aus Sicherheitsgründen außerhalb der Station und des ATV und werden im Andockmechanismus zusammengeführt und verbunden.

Die Besatzungsmitglieder finden derweil neue Verwendungsmöglichkeiten für das temporäre Stationsfrachtdruckmodul. Unter anderem haben sie es als einen Ort entdeckt, in den man sich zum Schlafen und Waschen zurückziehen kann. Einer der geleerten Frischwassertanks konnte erfolgreich mit 110 Litern Kondenswasser von der ISS befüllt werden. Und nicht zuletzt wurde die ATV-Mission um einen Monat von August auf September verlängert, um die enormen ISS-Bahnanhebungskapazitäten länger zu nutzen.

Seit Anfang April stehen die Schotts zwischen JULES VERNE und der ISS offen und bisweilen werden die 48 Kubikmeter Volumen zum Zentrum des täglichen Lebens und der logistischen Aktivitäten der ISS-Besatzung.

Eine neue Hygienestation?

Im Innern des ATV
Oben: Oleg Kononjenko und Sergeij Wolkow im Innern des ATV. Mit 48 Kubikmetern Rauminhalt bietet es sehr viel zusätzlichen Platz, der als Schlafraum oder Hygienezelle genutzt werden kann. (Photo: NASA)
Nach einer Anfrage der Astronauten und Kosmonauten der ISS erlaubten die ATV-Missionsleiter die Verwendung von JULES VERNE für einen völlig neuen Zweck. Statt die übliche Mannschaftshygienestation zu benutzen, können sie frei die Vorteile des ATV-Bereiches nutzen, um sich mit nassen Handtüchern und getränkten Waschlappen. Ebenso waschen sie ihre Haare mit einem alkohol- und spülungsfreien Schampon.

"Die Druckkabine des ATV bietet der Besatzung einen großen Raum, eine Menge Privatsphäre und es hilft dabei die Luftfeuchtigkeit in der Station niedrig zu halten", erklärte Hervé Côme, der ATV-Missionsdirektor am ATV-Leitzentrum in Toulouse, Frankreich.

Einige Besatzungsmitglieder nutzen das ATV auch als Schlafplatz, da dort der Geräuschpegel durch die Ventilatoren und die Luftumwälzung relativ niedrig ist. Obwohl die Raumstation zwei kleine Schlafkabinen zur Verfügung stellt, ist jede nur groß genug für einen Raumfahrer. Das dritte Besatzungsmitglied ist frei sich überall in der Station zu schlafen, solange es seinen Schlafsack nur irgendwo an einer Wand befestigen kann.

Wassertransfers

Anfang April wurden zu Testzwecken 270 Liter Trinkwasser aus dem ATV zur ISS herübertransferiert. "Die Analysen zeigten, daß die Wasserqualität war ausgezeichnet zum Trinken geeignet und der Transfer zur ISS klappte problemlos", meinte Hervé Côme.

Am 29. Mai fragten die ISS-Partner beim ATV-Betriebsleiter der ESA an, 110 Liter nichtwiederaufbereitetes Wasser aus dem Luftfeuchtigkeits-Kondensationssystem der Station in das ATV herüberpumpen zu dürfen. Eine Wasserrückführung auf diese Weise war in den ursprünglichen Betriebsvorgaben nicht vorgesehen.

Fünf 22-Liter-Wasserbeutel wurden verwendet, um dieses nicht nutzbare Kondenswasser zu lagern, bevor es in die kugelförmigen Wassertanks des ATV transferiert wurde. Derzeit verbraucht ein Raumfahrer an Bord der ISS im Schnitt etwa 13,6 Liter Wasser am Tag. Die Umweltanlagen der Station entziehen der Luft ständig Flüssigkeit und bereiten den Großteil davon wieder auf, um den Feuchtigkeitsgrad auf der Station zu regulieren.

Gegen Ende der Mission wird flüssiger Abfall aus der Stationstoilette über flexible Schläuche und Ventile oder faltbare Plastikbehälter in die Tanks des ATV gepumpt. Die Besatzung wird außerdem den Frachtbereich des Raumfahrzeugs allmählich mit dem Abfall der Station und nichtbenötigter Ausrüstung und Gerätschaften füllen.

Die russischen Partner haben die ESA außerdem gefragt, eine nicht mehr benötigte Sojus-Sitzschale mitzunehmen. Am Ende seiner Mission wird JULES VERNE bei einem kontrollierten Wiedereintritt in die Erdatmosphäre über dem Pazifik verglühen und dabei 6,3 Tonnen von Abfall vernichten.

Im letzten April war das ATV auch von Yi So-yeon, der ersten südkoreanischen Astronautin genutzt worden, um während ihres elftägigen Aufenthalts auf der Raumstation Experimente durchzuführen.

Unter den zahlreichen ATV-Aktivitäten gehörte auch das kurze, 400 Millisekunden dauernde Betätigen von einigen der 28 kleineren (220N-)Steuerdüsen des Transporters vom Moskauer Leitzentrum aus. Der Zweck dieses schnellen Lageregelungstests, war die Überprüfung des dynamischen Verhaltens des 400-Tonnen-Komplexes mit dem neuen 16-Tonnen-Labor KIBO und der Raumfähre DISCOVERY angedockt.

"JULES VERNE ist ein unglaubliches Raumfahrzeug; seine Leistung liegt jenseits unserer besten Erwartungen. Das ATV hat alle seine Aufgaben perfekt erfüllt und da noch obendrauf wurden einige neue Funktionen möglich gemacht, die wir anfangs gar nicht eingeplant hatten", meinte Alberto Novelli, der Leiter des Missionsbetriebs am ATV-Leitzentrum.

Glückwünsche der NASA

JULES VERNE wird noch einen zusätzlichen Monat an der ISS angekoppelt bleiben. Das Ablegen verschiebt sich damit von Anfang August, wie ursprünglich geplant auf September. Das europäische Raumfahrzeug wurde konzipiert, um sechs Monate an der Station angekoppelt zu bleiben, ebenso wie die russischen Sojus- und Progress-Kapseln.

"Bei dem Einführungsrendezvous mit der ISS hat JULES VERNE über 870 kg an Treibstoff gespart, der in diesem Sommer in regelmäßigen Intervallen für Bahnanhebungsmanöver genutzt werden kann", erklärte Frank Boukaert, ATV-Ingenieur für Mechanik und Wärmeregulierung. "Diese Manöver bringen die Station auf eine höhere Umlaufbahn, um die Widerstandseffekte der Restatmosphäre auzugleichen."

Die Erfolge des ATVs wurden auch von NASA-Administrator Michael Griffin gewürdigt. "Ich bin unglaublich stolz auf unsere europäischen Partner für ihr erfolgreiches Andocken von JULES VERNE an der ISS", meinte Griffin während einer offiziellen Rede vor dem Parlamentsausschuß für Raumfahrt der französischen Nationalversammlung am 5. Juni 2008.

"Ich spende dem dem Erfolg Europas meinen Beifall. In Kombination mit dem zuvor erfolgten Start des Labormoduls COLUMBUS markiert der Erfolg des ATV die Ankunft Europas als eine vollwertige Raumfahrtmacht. (...) Wir begrüßen sie nicht nur, wir bitten sogar um die Zusammenarbeit Europas bei der bemannten Erkundung [des Alls]. Wir begrüßen die Entwicklung von unabhängigen europäischen Einsatzmöglichkeiten im All, um redundante Systeme bereitzustellen, für den Fall, daß die Systeme von einem der anderen Partner versagen."

Quelle: ESA
Bearbeitet von: Matthias Pätzold


letzte Änderung am 19. Juni MMVIII